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"Hamburg fühlt sich gut an"
Der blinde Läufer Henry Wanyoike über seine Mission und seine Art der Wahrnehmung von Menschen und Städten.

ABENDBLATT: Herr Wanyoike, Sie gehen am Sonntag beim 20. Olympus-Marathon an den Start. Warum haben Sie sich gerade Hamburg ausgesucht?

HENRY WANYOIKE: Generell versuche ich, immer neue Strecken auszuprobieren. Bengt (Pflughaupt, Waynoikes Biograph, die Red.) erzählte mir vom Hamburger Marathon. Das wollte ich ausprobieren. Vergangenes Jahr war ich in Frankfurt am Start.

ABENDBLATT: Ist es für einen blinden Läufer nicht von Vorteil, die Strecke zu kennen?

WANYOIKE: Ich will mit meiner Botschaft so viele Menschen wie nur möglich erreichen. Ich will Aufmerksamkeit für die Arbeit der CBM (Christoffel-Blindenmission) in Kenia erzeugen. Sie hilft und heilt Menschen mit Augenkrankheiten. Ohne sie hätte ich nie das erreichen können, was ich erreicht habe. Sie hat mich nach meiner Erkrankung in einer Klinik aufgenommen und an den Sport herangeführt.

ABENDBLATT: Wie haben Sie sich auf Hamburg vorbereitet?

WANYOIKE: Ich bin am vergangenen Wochenende in London gestartet. Eigentlich wollte ich dort einen Halbmarathon laufen. Aber dann lief es so gut, das Wetter war schön, so daß mein Führungsläufer Joseph Kibunja und ich beschlossen haben durchzulaufen. Am Ende kam ein neuer Weltrekord für Behinderte heraus: 2:32:51 Stunden. Ich wurde 91.

ABENDBLATT: Und was ist für Hamburg noch drin?

WANYOIKE: Hamburg soll mein Saisonhöhepunkt werden. Ich denke, ich kann hier noch schneller sein. Es ist durchaus möglich, zwei Weltrekorde innerhalb einer Woche zu laufen. Ich fühle mich frisch, trotz der ganzen PR-Termine in dieser Woche.

ABENDBLATT: Wie finden Sie sich während des Laufs zurecht?

WANYOIKE: Mein Begleiter Joseph ist immer an meiner Seite. Wir kennen uns schon seit unserer Kindheit und wohnen im selben Dorf Kikuyu. Seit vier Jahren laufen wir zusammen. Er sagt mir, wie weit wir sind, ob ein Hindernis oder eine Kurve vor uns liegt, ob es bergauf oder bergab geht.

ABENDBLATT: Worin besteht die größte Schwierigkeit?

WANYOIKE: In der Koordination der Arme, die beim Lauf durch ein Band miteinander verbunden sind. Man ist einfach nicht frei in seiner Bewegung. Beim Training in Kenia sind wir nicht verbunden. Ich laufe in der Mitte einer Gruppe und folge den Schritten der anderen. Vorsichtig bin ich am Start. Ich versuche mich immer ganz außen zu halten, um nicht ins Getümmel zu geraten. Einmal, vor zwei Jahren in Wien, bin ich gleich gestürzt und verletzte mich so am Knie, daß ich nicht mehr weiterkonnte.

ABENDBLATT: Wie ist die Situation für den Behindertensport in Ihrer Heimat Kenia?

WANYOIKE: Es gibt nicht viel Unterstützung, die Regierung tut sehr wenig. Wenn man nicht gerade wie ich das Glück hat, von der CBM und Freunden wie Bengt gefördert zu werden, ist es sehr schwierig. Dabei weiß in Kenia jeder, wer Henry ist. Aber die mangelnde Förderung betrifft sogar die nichtbehinderten Sportler - nicht umsonst haben viele die Staatsangehörigkeit gewechselt, um mehr Geld und Unterstützung zu erhalten. Mein Guide Joseph zum Beispiel dürfte nie allein im Ausland starten, obwohl er den Marathon in 2:10 Stunden laufen könnte. Das schaffen in Kenia allerdings mindestens 20 Läufer.

ABENDBLATT: Käme ein Nationenwechsel auch für Sie in Frage?

WANYOIKE: Nein. Ich will anderen Behinderten in Kenia und überall auf der Welt Mut machen.

ABENDBLATT: Wie sind Sie blind geworden?

WANYOIKE: Es passierte in der Nacht zum 1. Mai 1995. Ich wachte auf, fühlte eine bleierne Müdigkeit, und als ich die Augen aufmachte, war es dunkel. Ich hatte im Schlaf von Kopfschmerzen geträumt und ein paar Blitze zucken sehen. Ich bekam Angst, es war ein Schock. Ich hoffte, daß es irgendwann vorbeigeht, aber es wurde nicht besser. Meine Mutter dachte zuerst, daß ich nur eine Ausrede suche, um weiterschlafen zu können. Schließlich begriff sie den Ernst der Lage und brachte mich ins Krankenhaus. Die genaue Ursache haben die Ärzte bis heute nicht herausfinden können. Sie vermuten einen Schlaganfall, andere eine Virusinfektion. Meine Nervenverbindungen vom Auge zum Gehirn sind irreparabel beschädigt.

ABENDBLATT: Gab es weitere Anzeichen eines Schlaganfalls?

WANYOIKE: Keine Lähmungen, ich konnte mich jedoch kaum bewegen und mußte die ersten drei Monate in einem Rollstuhl sitzen. Es war eine schreckliche Zeit, und ich hatte nur ein Ziel: wieder laufen zu können. Daran habe ich meine ganze Energie gesetzt.

ABENDBLATT: Daß Sie blind bleiben würden, haben Sie akzeptiert?

WANYOIKE: Die Ärzte hatten mir keine Hoffnungen gemacht. Es dauerte aber eine lange Zeit, bis ich ahnte, was das bedeutet, nie wieder sehen zu können.

ABENDBLATT: Sind Sie völlig blind?

WANYOIKE: Zu 95 Prozent, aber es wird schlechter. Ich kann nur noch Helligkeit von Dunkelheit unterscheiden.

ABENDBLATT: Haben Sie noch Bilder im Kopf, von Ihren Eltern zum Beispiel?

WANYOIKE: Sie verschwinden allmählich. Die Ärzte haben mir gesagt, weil das zuständige Hirnareal nicht mehr benutzt wird, verkümmert es. Dafür haben sich meine anderen Sinne wie Tasten, Hören, Riechen entwickelt. Und die Stimme ist das, was mir etwas über einen Menschen sagt.

ABENDBLATT: Wenn Sie Marathon laufen, wie nehmen Sie die Zuschauer wahr?

WANYOIKE: Ich visualisiere kaum noch etwas. Die Anfeuerungsrufe, der Lärm an der Strecke sind für mich angenehme Geräusche, sie wecken in mir positive Emotionen, sie motivieren mich, aber sie lösen in meinem Kopf keine Bilder aus.

ABENDBLATT: Wie stark behindert Sie ihre Blindheit beim Laufen?

WANYOIKE: Es fehlt das absolute Vertrauen in den nächsten Schritt. Auch wenn ich einen Begleiter habe, so weiß ich doch nicht, wo ich hintrete. Ein bißchen Vorsicht ist bei jedem Schritt dabei - und die bremst. Ich denke, könnte ich sehen, würde ich den Marathon in 2:10 Stunden schaffen.

ABENDBLATT: Ist es ein Traum von Ihnen, daß Sie irgendwann wieder sehen können?

WANYOIKE: Aber auf keinen Fall vor dem Ende meiner Karriere (lacht). Ich habe meine Mission als blinder Läufer aus Kenia noch nicht abgeschlossen. Mir bleiben noch ein paar Jahre, um jeden in der Welt zu erreichen. Wenn ich damit fertig bin, warum nicht?

ABENDBLATT: Wie lange wollen Sie in Ihrer Mission unterwegs sein?

WANYOIKE: Ich habe mir kein Zeitlimit gesetzt. 20 Jahre bestimmt.

ABENDBLATT: Sie reisen jetzt durch die Welt. Können Sie überhaupt unterscheiden, in welcher Stadt Sie sind?

WANYOIKE: Ich unterscheide Sprache, Wetter, das Transportsystem. Städte fühlen sich unterschiedlich an, die Geräusche, die Luft, die Atmosphäre. Ich spüre Hektik oder Entspanntheit.

ABENDBLATT: Wie fühlt sich Hamburg an?

WANYOIKE: In dieser Stadt kann man sich wohlfühlen.

ABENDBLATT: Wo erfahren Sie die größte Anerkennung?

WANYOIKE: Ich denke, in Deutschland. Hier habe ich viele Freunde, hier hat man ein offenes Ohr für mich, es gibt ein großes Interesse an meinem Buch.

ABENDBLATT: Am heutigen Sonnabend sind Sie Gast des HSV in der AOL-Arena. Werden Sie sich das Spiel gegen Rostock anschauen?

WANYOIKE: Ich habe gehört, es gibt in diesem Stadion einen speziellen Service für Blinde. Wenn er auf Englisch ist, werde ich ihn versuchen zu nutzen.

ABENDBLATT: Haben Sie eine Lieblingsmannschaft im Fußball?

WANYOIKE: Arsenal London.

ABENDBLATT: Warum?

WANYOIKE: Wegen der vielen unterschiedlichen Kulturen in der Mannschaft. In diesem Klub gibt es keine Diskriminierung, die Hautfarbe ist egal. So sollte es überall sein.

 

Interview: RAINER GRÜNBERG, ACHIM LEONI

erschienen am 23. April 2005 in Sport

 

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Buchtipp:

Bengt Pflughaupt erzählt die unglaubliche Geschichte von Henry Wanyoike - nachzulesen in der Biographie "Henry Wanyoike. Mein langer Lauf ins Licht"


Link: Herder Verlag

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